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Freitag, 6. Dezember 2013

Möbel im Automobil – Die Mittelkonsole (Teil 2)

Interior Design

Mit der im Sommer 2013 neu erschienenen S-Klasse (W222) hat Mercedes wieder einmal den Anspruch formuliert, das beste – und fortschrittlichste – Auto der Welt zu bauen. Das manifestiert sich gestalterisch weniger im Exterior, wo gegenüber dem Vorgänger der Rückzug hin zu einem vorsichtigen und uncharakteristischen Design gemacht wurde, dafür aber umso deutlicher im Interior. Hier gibt es die größte Displayfläche, die jemals in einem Großerienfahrzeug verbaut wurde. Über beinahe 2/3 der Fahrzeugbreite reicht sie, auf ihr ist von der virtuellen Darstellung klassischer Rundinstrumente bis zur futuristisch gestylten 3D-Darstellung der Schalttafel selbst – und ihrer Klimatisierungselemente – alles möglich. 

Mercedes S-Klasse, 2013
Die durch die Verwendung rechteckiger Displays recht klotzige Anzeigefläche soll durch eine Hinterleuchtung scheinbar ins Schweben versetzt werden und sitzt in einer übergroßen, auf der Oberseite schnurgeraden Hutze. So vergleichsweise unbeholfen das gestaltet ist, so elegant und geschmeidig geht es unterhalb und neben dieser Anzeigekiste weiter: Den Mercedes-Designern ist hier der wahrscheinlich beeindruckendste Wrap-Around Look gelungen, den es seit der Erfindung dieses Gestaltungsmittels gibt. Die Konturlinien reichen von der Schalttafel bis weit in die Türen hinein und ergeben tatsächlich den Eindruck, vom Fahrzeug umfasst und beschirmt zu werden. Große, leicht vom Betrachter weg geneigte Flächen verstärken den Effekt. 
Audi A8, 2009
Trotz einer kraftvollen Ausformung der Schalttafel zwischen den beiden Vordersitzen entsteht nicht das Gefühl einer Teilung, Fahrer und Beifahrer sind nicht eingeschlossen. Und das liegt daran, dass zwischen der Tunnelkonsole und der Schalttafel eine klare Trennung vorhanden ist, die bei Dunkelheit durch eine durchgehende Leuchtleiste noch betont wird. Damit nimmt Mercedes die 2009 beim Audi A8 eingeführte Architektur auf und überträgt sie in einen etwas weicheren, üppigeren Look.

Ebenso konsequent, aber vielleicht noch auffälliger hat sich Audi übrigens beim A3 von 2012 von der klassischen Mittelkonsole verabschiedet. Für das Klimabedienteil gibt es nur noch eine reduzierte Ausformung an der Schalttafel, die durchgehende Horizontale wird durch Fugen und Leisten betont. Der Raum vor dem Schaltknüppel ist vollständig frei von Bedienelementen. 

Bedeutet das nun, dass die Mittelkonsole langsam wieder aus unseren Autos verschwindet? 

Sicher nicht. Im Schwestermodell des A3, dem Golf 7, wird die Mittelkonsole radikal betont, mit dem Instrumententräger zusammengefasst und in klassischer BMW-Manier dem Fahrer zugeneigt.  

Auch die anderen Konzernmarken bleiben der Mittelkonsole treu, Franzosen und Italiener machen sie nach wie vor gestalterisch zum Zentrum des Fahrzeuginnenraumes. Toyota hat beim Auris versucht, die Tunnelkonsole noch höher zu bringen und direkt in die Schalttafel hineinlaufen zu lassen. Das führte dazu, dass unterhalb der Konsole ein Hohlraum entstand, der mit einem Ablagefach teilweise gefüllt wurde. Die Lösung wurde in Europa nicht akzeptiert und beim neuen Modell durch eine dezidiert klassische Anordnung ersetzt. 

Opel hat für die vielen Schalter auf den Mittelkonsolen der Modelle Astra und Insignia viel Schelte einstecken müssen. Man könnte meinen, das ganze Interior sei sozusagen von der Mitte aus gestaltet, eine richtige Schaltzentrale wurde da etabliert. (Mittlerweile gibt es ein offenbar sehr gutes neues Bedienkonzept mit einem Touchscreen). 

Opel Astra, 2010
Aber die Opel-Konsole hatte vor der Modellpflege noch ein anderes Problem, das auch durch die strikte Symmetrie verursacht wurde: Sie hatte ein Gesicht. Und was an der Front eines Fahrzeuges Sinn – oder zumindest Spaß – macht, ist an dieser Stelle eher unerwünscht. Zumal der Ausdruck dieses Gesichtes nicht eben erfreulich ist: Die Dekormaske auf der Mittelkonsole des Astra erinnert fatalerweise an die Geistermaske aus dem Horrorfilm »Scream«.


Bentley Continental GT, 2013
Auch in der Oberklasse gibt es übrigens immer noch imposante und interessante Mittelkonsolen-Lösungen. Herausragend ist die Behandlung des Themas im Bentley GT, bemerkenswert die architektonische Auffassung im Range Rover, wo durch eine wohl überlegte Grafik ein spannender Durchdringungseffekt entsteht. 



Aston Martin One-77, 2013
Ähnlich geometrisch und sophisticated ist die Schalttafel des Jaguar XF, was umso mehr überrascht, als dass man von Jaguar eher geschwungene Linien und eine dramatische Plastizität erwarten würde. 

Und abschließen lässt sich das Kapitel vielleicht am besten mit dem Aston Martin One-77: Hier wurde ein Designertraum verwirklicht, nämlich der bruchlose Übergang der Oberseite der Schalttafel in die Tunnelkonsole. Und schlecht sieht das ja nun wirklich nicht aus.

Doch wir sind mit dem Kapitel eben doch noch nicht fertig. Denn die allmählich aufkommende E-Mobilität führt – wo die Fahrzeuge speziell für diese Antriebsform entwickelt werden – zu neuen und ungewohnten Lösungen. Das hat vor allem mit dem Fehlen des Mitteltunnels zu tun. 

Tesla S, 2013
Beim Tesla S ist aus der Tunnelkonsole ein Ablagefach geworden, das praktisch auf dem Boden des Fahrzeuges steht. Darüber schwebt, physisch und optisch nur mit der Schalttafel verbunden, ein 17" großer Touchscreen, auf dem alle Bedienelemente nur noch grafisch dargestellt werden – vom Navi über die Fahrzeugkonfiguration bis zur Klimabedienung. 



BMWi3, 2013
Die radikalste Lösung hat aber BMWi beim i3 gewählt. Die Konsole ist beinahe spurlos verschwunden, nur im Fußraum trennt noch eine schwarze Box an der Spritzwand den Fußraum des Fahrers von dem des Beifahrers. Darüber hängt eine abstrakte Skulptur, die mit einer deutlichen Betonung der Horizontalen gestaltet wurde,  zwei Displays scheinen eher darüber zu schweben, als dass sie damit verbunden wären. Hier öffnet sich die Tür zu einer neuen Gestaltungsfreiheit, und vielleicht zeigt Audis A2 Studie von 2011 am besten, wieviel Luft und Freiraum ins Interior gebracht werden können, wenn man das alte Möbel rausschmeisst. 

Audi A2 Concept, 2011

Hier gibt es sogar eine recht elegante Lösung für des Fahrers Gasfuß…









(Alle Abbildungen: Pressefotos der jeweiligen Hersteller.)

Dienstag, 20. Dezember 2011

Lokführer mit Paganini-Syndrom

Designausbildung, Kultur, Zukunft


Vor einigen Tagen hatte ich ein längeres Gespräch mit einem Fahrzeugdesigner. Ich will hier im Text keinen Namen nennen, aber es war schon jemand, den der eine oder andere kennt. Der Grund für meine Diskretion liegt in dem, was der freundliche Herr mir erzählte. Es ging unter anderem um die Kriterien, die bei der Auswahl von Jungdesignern angewendet werden.

Kurz gesagt: Er muss zeichnen können. Und sonst? Er sollte zeichnen können. Und außerdem ist noch wichtig, dass er (oder vielleicht auch sie) gut zeichnen kann. Die "freshe" Skizze ist das Maß aller Dinge. "Fresh" bedeutet: Die Linien müssen schnell und spontan sitzen, d.h. es sollte sichtbar sein, dass kein großer Zeitaufwand nötig war, um Perspektive, Linienführung und Komposition in Griff zu bekommen. "Fresh" bedeutet außerdem, dass das Ergebnis möglichst viel Dynamik ausstrahlt, der Glanz der Lackoberfläche in einer realistisch anmutenden, aber Comic-haft codierten Weise souverän und beeindruckend wiedergegeben ist und aus hell-dunkel und Linien eine grafisch ansprechende und anspruchsvolle Komposition entsteht. Die Linienstruktur einer Scetch entsteht auf einem Blatt Papier oder, heute meistens, direkt auf dem Grafiktablett. Die Zeichnung wird in Photoshop oder in einem dafür konzipierten Car-Styling Programm (z.B. Alias) vervollständigt. Dabei wird eine technische Virtuosität erwartet (und geboten) die mit der eines Solomusikers durchaus zu vergleichen ist. Und man kann diesen Vergleich weiter führen: wie beim Musiker ist Üben, stures, ehrgeiziges, unbeirrtes Üben notwendig, um aus einer vorhandenen Begabung die erwartete Beherrschung der Materie zu entwickeln. Und wie beim Konzertsolisten ist die Konkurrenz hart, der Wettbewerb eng.

Nun ist ja gegen eine solche Kultur der Darstellung wenig einzuwenden. Ein hohes Niveau ist in allen Bereichen interessant und erstrebenswert. Wenn wir aber noch einmal zum Musiker zurückblicken, dann fällt uns ein entscheidender Unterschied auf: Der Virtuose hat als Material seiner Kunst ein Stück, das er spielt, ein komplexes, auf zahllosen Ebenen verwobenes Werk, das in der Regel weder schnell noch leicht entstanden ist, sondern das Ergebnis eines langen, nicht selten qualvollen, kreativen Prozesses eines Komponisten darstellt.
Dieser emotionale Arbeitsprozess gibt, auf Basis des kulturellen Kontextes und der in diesen Kontext auf irgend eine Weise eingehängten gereiften Persönlichkeit dem Werk Substanz und Tiefe. (Und kommen Sie mir jetzt nicht mit Mozart. Die Werke des jungen Wolfgang zeigen auf ihre Weise nämlich genau das Problem, um das es hier geht.) Welches Stück aber spielt der junge Transportation Designer?

Autodesigner ist wahrscheinlich einer der begehrtesten Traumberufe der heutigen Zeit, jedenfalls für männliche Jugendliche aus einem bestimmten sozialen Umfeld. Zehntausende Interessenten treffen auf wenige Hundert Stellen. Um in diesem Umfeld zu bestehen, ist ein eiserner Ehrgeiz oder eine an Besessenheit grenzende Ausschließlichkeit des Interesses (für das Thema Fahrzeugdesign) notwendig – am besten beides in Kombination. Diese Tatsache wird auch an den Hochschulen und von den etablierten Designern immer wieder deutlich kommuniziert. Und so lautet der Titel des Stückes, das der junge Designvirtuose spielt dann auch: "Meine Karriere". Nicht anders.

Es besteht (und das habe ich in dem oben erwähnten Gespräch gelernt) keinerlei Bedarf an Querdenkern, Kulturmenschen, Daniel Düsentriebs oder Experimentatoren. Die ganze Branche hat sich in den Wettlauf um ein auf die Spitze getriebenes "mehr desselben" gestürzt. Wenn gelegentlich ein anderer Eindruck entsteht, dann ist das dem Marketing geschuldet, oder einem Management, das ein wenig "out of the box" denkt. Grundlegende kreative Impulse kommen – und das ist die große Überraschung – im aktuellen Geschäft nicht von den Designern. Sie können überhaupt nicht von dort kommen, denn die Designer sind damit beschäftigt, in einem auf einer sehr engen Bahn durchgeführten Wettbewerb zu bestehen.

Das ist eine zugespitzte Darstellung, zugegeben. Ich will überhaupt nicht bezweifeln, dass unter den Designchefs der großen Konzerne Menschen von beeindruckender Kultur und Lebenserfahrung sind. Und ich sehe natürlich, dass das heutige Automobildesign gelegentlich auf einem Niveau stattfindet, das ohne ein Bewusstsein für den kulturellen Kontext und ohne eine stets wache Wahrnehmung aktueller gestalterischer Strömungen nicht möglich wäre. Aber dennoch…

Der Architekt und Philosoph Patrick Schuhmacher, Büropartner von Zaha Hadid, bemerkt in einem Interview (build, 11. Jahrgang, 2/2011): "Es mangelt vor allem an theoretischer Ambition. Es gibt bisher keinen (…) Versuch einer umfassenden Diskursanalyse und gesellschaftstheoretischen Begründung von Architektur. Die aktuelle Notwendigkeit und Möglichkeit einer solchen Reflexion wird zur Zeit von niemandem (…) gesehen. 'Grand Theory' ist ja ganz allgemein (trotz Luhmann) immer noch verpönt." Er spricht über Architektur. Doch um wieviel mehr gilt das für das Design eines der präsentesten und dominantesten Gebrauchsgegenstände, die wir haben – des Autos! Innerhalb der Branche gibt es nicht den leisesten Ansatz einer über das Formale hinausgehenden Kritik. Und wo es in der Architektur eine Tradition der Theorie auf vielen Ebenen – sozialer, wahrnehmungspsychologischer, ökologischer und ökonomischer zum Beispiel – gibt, da findet sich beim Thema Fahrzeugdesign so gut wie nichts. Otl Aicher war kein Fahrzeugdesigner, und seine nun schon fast 30 Jahre alte "Kritik am Auto" las sich vielleicht zu polemisch, um in den verantwortlichen Köpfen etwas zu bewegen.

Warum ist nun eigentlich gegen die rein handwerklich – wenn auch virtuos handwerklich – orientierte Auswahl von Gestaltern im Transportation Design etwas einzuwenden? Ist es wirklich notwendig, etwas so konkretes wie die Formgebung eines technischen Gegenstandes mit einem abstrakten Überbau zu versehen? Ist das nicht nur Wichtigtuerei? Geht hier nicht etwas verloren, so wie in der Werbegrafik der Charme der Unschuld durch Wahrnehmungspsychologen und Marketing-Theoretiker vernichtet wurde?

Die Antwort darauf hat viele Schichten.

Wenn wir ganz unten, oder besser: ganz innen anfangen, dann erkennen wir, dass – oberhalb des rein Gestaltungstechnischen – ohne eine gewisse Kenntnis von Semiotik und Semantik (siehe hier: Eine Linguistik der Formensprache) als zweite Ebene keine substanzielle Gestaltung möglich ist. Die Branche verlässt sich hier weitgehend auf den individuellen Horizont der jeweiligen Gestalterpersönlichkeit, und sie fährt nicht schlecht damit. Deswegen soll dazu nichts weiter gesagt werden, soweit es diesen Text betrifft.

Auch die dritte Ebene steht in einem sehr engen Zusammenhang mit dem persönlichen Horizont, den Erfahrungen und Werten des Gestalters: Hier findet sich, im weitesten Sinne, Kultur.

Anstatt eine Analyse zu versuchen, möchte ich mit einem Beispiel zeigen, was ich meine. Viele Käufer und Nutzer der Mercedes S-Klasse dürften in einem Umfeld leben, das von hochwertigen handgefertigten Möbeln, oft antike Stücke, geprägt wird. Sie kommen regelmäßig, wenn etwa nicht in ihrem Zuhause, dann doch in Hotels, Besprechungsräumen und ähnlichen Treffpunkten mit echter, hochwertiger Kunst in Berührung. Sie sind gezwungen, ihre Kleidung nach anspruchsvollen Kriterien auszuwählen und müssen, ob sie es wollen oder nicht, ein gewisses Bewusstsein für die Qualität von Schnitten, Stoffen und Accessoires entwickeln. Sie wissen, wie ein guter Schuh verarbeitet ist, und was den Unterschied zwischen einem englischen und einem italienischen Modell ausmacht. Im Falle unseres Beispiels handelt es sich zusätzlich noch um ein sehr konservatives, also auf die Pflege und Weiterführung generationenalter Werte gerichtetes Mileu. Was nun, wenn das Interior eines für eine solche Zielgruppe gedachten Fahrzeugs von einem 26-jährigen, ehrgeizigen und begabten, aber mit der Lebenswelt der Käufer absolut nicht vertrauten Jungdesigner gezeichnet wird? Dieser junge Mann kommt möglicherweise (nein, wahrscheinlich!) aus einer kleinbürgerlichen Familie mit Aufsteiger-Tendenzen. Er mag sich, wenn es gut geht, im Rahmen des Projektes mehr oder weniger intensiv mit Formen und Farben der Zielgruppe auseinandersetzen, die andere, ebenfalls aus einem Aufsteigermilieu stammende für ihn gesammelt und vielleicht in Moodboards dargestellt haben. Aber er wird kaum begreifen können, wie die Wertewelt derjenigen aussieht, für die er gestaltet. Wenn er es doch versucht, wird ihm ein anderes Hindernis begegnen, das "Angler und Fisch"-Problem nämlich. Denn aus der Vielzahl von Varianten, die von verschiedenen Designern entwickelt und dargestellt werden sucht ja nicht der endliche Kunde diejenige aus, die ihm am besten gefällt, sondern das obere Management des Unternehmens. Der Köder, den der Designer in Form seiner Skizze auf den Tisch legt, wird gar nicht danach beurteilt, ob er dem Fisch (also dem Kunden) schmeckt, sondern danach, ob er den Anglern (also den Managern) mundet.

Auch hier wieder: Eine zugespitzte Darstellung, die ein prinzipielles Problem verdeutlichen soll. Das o.g. Beispiel bezieht sich übrigens konkret auf die von 1998 bis 2005 gebaute Reihe W220. Der von VW im Jahr 2002 präsentierte Phaeton ging einen gestalterisch vollkommen anderen Weg – hier hatte, so liest man, Ferdinand Piëch mehr als nur ein Wort mitzureden. Fisch und Angler kamen sozusagen aus ein und derselben Familie, wodurch ein exzellentes Ergebnis möglich wurde.

Aber auch diese dritte Schicht ist immer noch vollständig affirmativ, sie führt zu nichts anderem als zu "mehr desselben".

Deswegen muss, auf einer vierten Schicht, ein gestaltungstheoretisches (nicht gestalttheoretisches) Denken beginnen. Die einfache Frage: Was tue ich hier eigentlich? öffnet dem Designer neue Welten: Manipulation, gesellschaftliche Verantwortung, die Wirkung von Form auf das Verhalten der Nutzer, soziale Faktoren – ein unendlich weites Feld diskursiver Themen tut sich auf. Dieser kleine Text würde sich gewaltig verheben, würde er auch nur andeuten wollen, was da alles denkbar und bedenkenswert ist. Aber schon ist zu sehen, dass diese ganze Meta-Ebene des Gestaltens, gerade im Fahrzeugdesign, nicht nur unbeackert ist, sondern offenbar auch als verbotenes Terrain gilt. Aber eine Veränderung der ganzen Branche, eine Veränderung, die Vernunft, Verantwortung und den leichten, einfachen Spaß zurück bringen könnte, müsste von dieser Ebene aus ihren Anfang nehmen. Genau deswegen können wir eigentlich nicht akzeptieren, dass unsere Fahrzeuge von kleinen Jungs gemacht werden, die sich mit virtuoser Zeichentechnik ihren Traumberuf erkämpft haben. Wir brauchen sie dringend, die Querdenker und Theoretiker, die reifen Kulturmenschen, die Experimentatoren.

Montag, 25. Januar 2010

Volkes Stimme und die Oberklasse

A8, 7er, S-Klasse
Eine der unser vernetztes Leben prägenden Erscheinungen ist die Tatsache, dass jeder Mensch, der über einen Computer verfügt, seine Meinung öffentlich machen kann. 
Wir leben eigentlich nicht so sehr in einer Informationsgesellschaft, es ist eher eine Meinungs-Äußerungs-Gesellschaft. 
Das ist gar nicht so schlecht. 
Auch ich profitiere davon, indem ich z.B. in dieses Blog hineinschreibe.
So konnte man also schon wenige Tage nach der prachtvollen Präsentation des neuen Audi A8 in Miami an allen Ecken und Enden des Internet (und in der Fachpresse) Urteile über dieses neue Oberklasse-Auto lesen. Die meisten Kritiker beschränkten sich wenigstens darauf, ihre Meinung zum Aussehen des Fahrzeuges zu äußern – in Sachen Design ist ja jeder gern ein Fachmann.
Ich will mich in diesen Zeilen nicht lange damit aufhalten, dass so ein A8 nicht gleichzeitig “wie ein aufgeblasener A4”, “genau wie der alte” und “ziemlich wie ein BMW” aussehen kann. Die gründliche Divergenz dieser Aussagen zeigt schon, dass da etwas nicht stimmen kann.
(Vergleiche mit anderen Autos sind unter Fachleuten ohnehin verboten. Man stelle sich einfach mal vor, Architektur würde so beurteilt…)

Der Witz solcher Praecox-Urteile liegt nämlich vor Allem darin, dass sie auf der Basis von drei oder vier Pressefotos oder eines YouTube-Filmchen getroffen werden. Der Rest ist Vorstellung, Idee, ist halb-bewusstes Parallelen-Ziehen. Und weil man sich einfach nur vorstellen kann, was man schon gesehen hat, kommt man so schnell zu diesen “sieht aus wie…”-Sätzen. Ich habe den A8 auch noch nicht im richtigen Leben erlebt. Aber als jemand der sich professionell damit beschäftigt, wie Sachen aussehen und wirken wage ich hier die Behauptung: Ihr werdet staunen. Ich traue dem Fahrzeug eine Präsenz, Würde und Kraft zu, die sich aus den Fotos unmittelbar kaum erschließt. In Proportionen war Audi immer schon gut. Wie die optische Gewichtsverteilung dieses Riesenautos wirkt, wenn es materiell anwesend ist, das kann man erst mal nur ahnen. Mit Sicherheit trägt die fast schon dramatische Flächenbehandlung das ihre dazu bei, dass der immer noch klare Fahrzeug-Körper als ein “lebendiger” Körper wahrgenommen wird – und das unterscheidet den neuen Oberklasse-Audi positiv von seinem Vorgänger.
Dramatische Flächen und Kanten kennen wir sonst ja eher von BMW, auch wenn der alte 7er hier nicht geglänzt hat – es fehlte an Spannung und “Zug” in dem Gefüge. Der aktuelle ist hier ganz “State-of-the-Art”, und er hat noch etwas Wichtiges hinzugewonnen: Die feine Balance der Proportionen. Mit Beginn der Ära van Hooydonk hat man sich nämlich in München wieder daran erinnert, dass ein Auto keine bloße in Blech geformte Idee ist, sondern auch ein Volumen, ein Gewicht und eine Form hat, dass also das Blech eine feste und unüberwindliche Grenze zwischen einem Innen und einem Außen darstellt. Nun stimmen Spannung und Proportion, und man kann sich über den Anblick redlich freuen (mal vom Heck abgesehen, aber BMW-Hecks sind eine ganz andere, ganz eigene Geschichte).
Wir haben also zwei relativ neue deutsche Oberklasse-Autos, die von zwei verschiedenen Seiten her einem Ideal von Ausgewogenheit und Spannung einigermaßen nahe kommen (und dabei erfreulich verschieden aussehen). Und wir haben den Platzhirsch, die S-Klasse, die immer noch als Referenz gilt. Wäre sie es in Sachen Formgestaltung – die Mitbewerber lägen falsch. Denn hier ist von Verfeinerung, skulpturaler Oberflächenbehandlung oder subtiler Ausgewogenheit keine Spur. Die Form kann von jedermann sofort verstanden und vermutlich auch beschrieben werden, der sie einmal bewusst angeschaut hat. Die Radhausbacken haben etwas fast comic-haftes, die steil ansteigende gebogene Lichtkante auf den Flanken geht in dieselbe Richtung, und Details wie die in Wagenfarbe lackierten Blendchen auf den Heckleuchten (erwartungsgemäß nun weg-modellgepflegt) gehören in die beliebte Rubrik “Design für Doofe”. Das ist alles gar nicht so böse gemeint, wie es vielleicht klingt. Denn die S-Klasse hat damit einen formalen Trumpf, den keiner der beiden Mitbewerber ausspielen kann: Unmittelbare formale Verständlichkeit. Ja, die S-Klasse sieht in Wirklichkeit genau so aus wie auf den Fotos. Front, Seite, Heck – gesehen und verstanden. Attraktiv wird sie dadurch für alle die, die sich mit formalen Feinheiten, der Spannung von Lichtkanten oder der Gewichtung des Greenhouse zum Körper nicht beschäftigen wollen oder können. Solche Menschen gibt es, viele von ihnen haben Geld. Die anderen schreiben manchmal Leserbriefe über das Design von Neuerscheinungen an Auto-Bild.
***
Für die derzeit erfolgreichste Luxusmarke der Welt, Louis Vuitton, arbeitet seit einigen Jahren Marc Jacobs, der Mann, der angeblich den Grunge erfunden hat. 
In der Frühjahrs/Sommer-Kollektion 2010 zeigen seine Models nicht nur riesige Afroperücken und Schuhe, die mit Federbüscheln dekoriert wie Vogelfüße aussehen, sie tragen auch unendliche Variationen subtil zerstörter oder veränderter Stoffe, Schnitte mit charmanten – und handwerklich anspruchsvollen – Fehlern und immer neue, ziemlich verrückte Varianten des berühmten (durch millionenfaches Kopieren schon fast unmöglich gewordenen) Logo-Druckes. Hier kommt alles zusammen: Das spektakuläre, sich auf den ersten Blick erschließende. Das raffiniert- detaillierte. Und die Kunst der Proportion. 
Mercedes, BMW und Audi, gewissermaßen.
Vielleicht wäre das ein kultureller Impuls für die Automobil-Oberklasse: Haute Couture von positiv wahnsinnigen Designern mit Hirn, Herz und Hand. Neu entdeckt werden würde auf diesem Wege bestimmt etwas, das im Augenblick im Autodesign eher kurz kommt, nämlich Witz, Charme und feiner Humor. Oder dürfen wir etwa die leicht unverschämt gezackten LED-Augen des A8 bereits in diesem Sinne verstehen?