Montag, 9. März 2020

The Last Car

Tesla Cybertruck


Vielleicht geht der 21.11.2019 in die Geschichte des Autodesign ein. Vielleicht markiert er sogar ein wichtiges Datum für die Entwicklung der menschlichen Mobilität. Das liegt nicht am Design des an diesem Termin der Öffentlichkeit präsentierten Cybertruck, jedenfalls liegt es nicht daran, dass dieses Design grundlegend neu wäre.

Wie inzwischen vielfach gezeigt wurde, gibt es für das streng geometrische, facettierte Brutaldesign des Tesla Cybertruck viele Vorbilder.
Man kann hier gepanzerte Militärfahrzeuge, Stealth-Bomber oder -Schiffe als Ideenspender sehen, viele radikale Sportwagenstudien aus den 70ern nennen, oder sich an die 2008 präsentierte Superyacht 118 Wallypower erinnern. Die mit Jettriebwerken ausgestattete Wally-Yacht war ein heftiges Statement des rücksichtslosen Luxus’. Während sie nach außen kriegerisch – nämlich gepanzert – wirkte, hielt sie für ihre Benutzer, unter Einsatz der selben vereinfachten Formsprache, eine Zen-hafte optische Stille bereit, eine Art von Komfort, die seit Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon als moderne Alternative zur barocken Üppigkeit zur Verfügung steht für jene Wohlhabenden, die allerhöchste Bildung und Kultur demonstrieren wollen. Ich frage mich seit Jahren, wie wohl die Übertragung der Designprinzipien, die Luca Bassani bei der 118 Wallypower anwandte, auf ein Straßenfahrzeug aussehen müsste. Teslas Cybertruck ist sicher auch eine Antwort auf diese Frage.

Wenn man facettiertes Design mit spitz-keilförmigen Flächen als Trend betrachten will, dann hatte der seinen Höhepunkt eigentlich schon vor einigen Jahren.
In Grafik und Design kam ca. 2012 der Low-Poly Stil auf, also die Darstellung dreidimensionaler Gegenstände mit einer reduzierten Anzahl flächiger Polygone.
Aus Papppolygonen geklebte Wandschmuckobjekte verbanden die Atmosphäre des »röhrenden Hirsches« mit einer Idee von moderner Cybertechnik.
Die origami-artig gefaltete Evolution Door des Wiener Künstlers und Designers Klemens Torggler zeigte 2014, wie sich dreieckige Flächen im Raum zu höchst interessanten Funktionsobjekten zusammenfügen lassen.
Das Designerlabel United Nude brachte 2016 mit dem »LoRes Car« eine bemerkenswerte – doch weitgehend folgenlose – Studie zum Thema geometrische Vereinfachung komplexer Volumen: Ein Lamborghini Countach wurde schrittweise einem Prozess der Vereinfachung finiter Elemente unterzogen, bis am Schluss ein schockierend simples, an einen geschliffenen Edelstein erinnerndes Gebilde herauskam, das zwar nichts mehr mit einem Auto gemeinsam hatte, aber als Fahrzeug durchaus vorstellbar war.

Der 2017 erschienene zweite Teil des stilbildenden Filmklassikers »The Blade Runner« (Blade Runner 2049) zeigt nicht nur bei den Fahrzeugen, sondern auch in der Architektur dieselben geraden Linien, spitzen Winkel und facettierten Flächen, sowohl eine Referenz auf den Originalfilm als auch auch im völligem Einklang mit dem (noch) aktuellen Designtrend.
Nun ist »The Blade Runner« aus mehreren Gründen ein Kunstwerk, das im Zusammenhang mit dem Cybertruck näher betrachtet werden sollte. Elon Musk, Teslas Spiritus Rector, twitterte schon 2012 »Would love to make a Tesla Supertruck with crazy torque, dynamic air suspension and corners like it’s on rails. That’d be sweet…« und detaillierte 2018 in einem Interview mit Vox Recode: »Well I can’t talk about the details, but it’s gonna be like a really futuristic-like cyberpunk, ‘Blade Runner’ pickup truck.« Da war die Entscheidung für das jetzt gezeigte Design noch nicht gefallen.

The Blade Runner ist eine Dystopie. Der Film erzählt seine Geschichte in einer finsteren, verbauten Welt, in der es ständig regnet und alles zwar für unsre Augen futuristisch, aber gleichzeitig auch kaputt und verbraucht aussieht. Das Setting wirkt lebensfeindlich, gefährlich und kalt. Nur in kleinen Räumen und Fahrzeugen kommt manchmal so etwas wie ein Gefühl des Vertrauens auf, es sind Mikromomente, in denen die ständige Anspannung der Protagonisten etwas nachzulassen scheint, auch wenn die nächste Bedrohung draußen schon wartet. 

Wie sieht unsre Realität im Jahre 2019 aus? Das in den 80er Jahren erfundene »Cocooning« als Reaktion auf eine als gefährlich empfundene Welt (das im Citroën C4 Cactus seine bisher augenfälligste Umsetzung erfuhr) funktioniert nicht mehr, jedenfalls nicht als behagliche Abpolsterung. Die schlechten Nachrichten von Klimawandel, weltweiter Ausbeutung und einem drohenden Zusammenbuch aller Systeme dringen immer stärker auf die Menschen in Mitteleuropa ein, und Abgrenzungsstrategien als Reaktion darauf funktionieren immer schlechter. In dieser ohnehin als feindselig erlebten Welt kommt eine medial geförderte Meinungs-Spaltung in allen Ebenen der Gesellschaft hinzu – der Umgangston wird immer aggressiver, die Positionen unversöhnlicher, sachbasiertes, nüchternes Denken wird immer seltener oder degeneriert ebenfalls zur Pose. Unsere Welt mag nicht so kaputt und lebensfeindlich aussehen wie die, in der Rick Deckart unterwegs ist, aber sie ist fast ebenso unübersichtlich, bedrohlich und naturfern.

Das ist der Hintergrund. Man kann nun den Cybertruck auf drei Bedeutungsebenen interpretieren. Und die Verbindung dieser drei Ebenen in einem Produkt ist das eigentlich Bedeutsame des Cybertruck. Wir kommen am Schluss darauf zurück.

1. Ebene: Kulturelles Spiel


Wie aus Elon Musks Äußerungen hervor geht, ist das Design des Cybertruck inspiriert von Science Fiction, insbesondere von dystopischen Visionen. Der Begriff Cyberpunk, mit dem versucht wurde, ähnliche Ansätze von Autoren, Gestaltern und Regisseuren zusammen zu fassen, spiegelt sich ja schon im Namen des Cybertruck wider.
Mit Cyberpunk lässt sich der spielerische Umgang mit Endzeitszenarien bezeichnen. Es handelt sich letztlich nur um einen Stil, der die Frage »was wäre, wenn« (unsere menschliche Kultur an sich selbst zugrunde ginge) mittels Design beantwortet. Funktionieren kann das nur, wenn man dieses Zugrundegehen als vermeidbar oder nicht akut betrachtet. Wer Cyberpunk lebt, hat die romantische Hoffnung, dass es doch nicht so schlimm kommt. Es ist ein Rollenspiel, in dem die Bedrohungen eben doch nicht in letzter Konsequenz tödlich sind und die Verselbständigung der künstlichen Intelligenz nur eine angenehm schaurige Idee ist. Das Spiel, das unser Leben ist, kann notfalls unterbrochen, korrigiert und neu begonnen werden – doch zunächst spielen wir weiter und stellen nicht die Frage nach dem Ausweg. Diese Haltung macht Vorgänge und Entwicklungen erträglich, die andernfalls Verzweiflung auslösen würden. Sie lässt den finalen Überlebenskampf als sportliches Ereignis erscheinen; vielleicht gewinnen wir nicht, aber überleben werden wir jedenfalls.
Wie man sieht, steht diese Lebens-Stilrichtung in einem interessanten Bezug zu einer Grundeinstellung, die bei Elon Musk so klingt: Die Chancen, dass wir in einer realen Welt leben und nicht in einer Simulation stehen Eins zu einer Million. Das ist seine aus der aktuellen Entwicklung der Computerspiele und der virtuellen Realität abgeleitete logische Folgerung: Wir leben sehr wahrscheinlich in einer Simulation. Daraus ergibt sich aber für ihn nicht, dass unsre Handlungen gleichgültig sind. Denn wir kennen den Ausgang aus dem Spiel nicht und sind Teil davon. Wir haben keine andere Wahl als möglichst gut zu spielen und unser Überleben zu sichern.
Cyberpunk ist ästhetisch interessant, philosophisch spannend und kulturell tief. Wer, wie Musk und sein Team, solche Ideen und Bilder verinnerlicht hat, für den ist ihre Umsetzung außerhalb der physikalisch folgenlosen Welt von Film und Roman – also in der »Realität« – höchst attraktiv. Gleichzeitig geben die Ideen des Cyberpunk den weltanschaulichen Spielraum für mutige, wenn nicht sogar radikale Entscheidungen. Es kommt unter diesen Prämissen nämlich nicht so sehr darauf an, man kann spielen, man kann probieren, was geschieht, wenn… Das ist das Gegenteil einer von Verlustangst dominierten konservativen Weltsicht, deren fehlende Bereitschaft zur Veränderung jede Korrektur schädlichen Verhaltens blockiert und damit in den Totalverlust führt. 
Musk ist ein Spieler, und das bringt enorme Chancen. 

2. Ebene: Die Befreiung vom Styling


In der Einleitung habe ich die Moden und Trends, die zu einem Low-Poly Stil wie dem des Cybertruck geführt haben könnten kurz angedeutet. Wäre der Cybertruck ein konventionelles Fahrzeug, das auf konventionelle Weise gefertigt wird, dann wäre die Analyse an dieser Stelle praktisch schon zu Ende und man könnte zur Kritik übergehen. Es wäre ätzende Kritik. Denn: Was bringt es, die nächste stilistische Sau durch das kleine, von inzestuösen Fahrzeugdesignern bewohnte Dorf zu jagen? Welche Probleme löst das radikale Erscheinungsbild, welche Funktion erfüllt es, außer der, viel Aufmerksamkeit zu generieren? Ist es nicht verantwortungslos, sich eine dermaßen krasse Abweichung vom Gewohnten zu erlauben, ohne dabei die wirklich wichtigen Antworten zu geben? Eine Andeutung von Low-Poly als Stil, wie bei Skoda oder bestimmten Hyundai-Studien mag zu rechtfertigen sein. Aber das?
Nun, der Punkt ist: Tesla gibt einige dieser wichtigen Antworten. Nicht nur mit dem Elektroantrieb, sondern auch mit der Bauart des Cybertruck, dessen selbsttragende Karosserie aus abgekanteten, quasi »gefalteten« Edelstahlblechen besteht. Werbewirksam spricht man von »Exoskelett«. Ich hielt das zunächst für einen reinen PR-Begriff, bis mir klar wurde, dass Tesla hier die Aufgabenteilung zwischen tragenden Teilen und Verkleidungsteilen überwunden hat – es gibt nicht mehr die Unterscheidbarkeit zwischen strukturellen Teilen und Außenhaut. Was man sieht ist das, woraus der Cybertruck besteht. Das ist durchaus revolutionär. Denn es bedeutet einen großen Schritt Richtung Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. Damit erklärt sich auch, warum der Cybertruck trotz des Akkus nicht teurer und nicht schwerer wird als gleich große Fahrzeuge mit konventionellem Antrieb. Teslas Strategie der Funktionsintegration und Teilereduktion, die schon beim Model 3 angewandt wurde, ist hier in aller Konsequenz weitergeführt. 
Und damit kehren Musk und von Holzhausen eventuell zurück in die Welt des echten authentischen Design und lassen das Styling hinter sich, welches die Autowelt komplett durchdrungen und überkrustet hat. Was zunächst aussieht wie eine besonders schamlose Anwendung der Prinzipen des Styling erweist sich bei genauerer Betrachtung als streng funktional gerechtfertigt. Ich schreibe bewusst nicht: funktional motiviert. Denn der Verdacht, die Entscheidung für das Cyber-Design sei vor der Entscheidung für die gefaltete Edelstahl-Karosserie gefallen, drängt sich sehr auf. Aber das ist eben Design: Das harmonisch moderierte Zusammenspiel von Form, Funktion und Emotion.

3. Ebene: Das Leben der kommenden Jahre


Zunächst eine Einordnung: Der Cybertruck entspricht in seinen Abmessungen exakt dem Ford F-150, einem fünfsitzigen PickUp, der, zusammen mit den anderen Varianten der F-Reihe, die Rolle des bestverkauften Autos in den USA übernimmt, und das seit 43 Jahren. Symbolisch gesprochen handelt es sich tatsächlich um den »amerikanischen Golf«. Ja, ein großer Pick Up ist das häufigste Auto in USA für den privaten Nutzer! Ich schicke das voraus, weil der Cybertruck uns als Europäern unanständig groß erscheinen mag, eine maßlose Inanspruchnahme von Raum und Materie, physisch wie visuell. 
In seinem Herkunftsland ist das anders, und das sollte man bei einer Einordnung des Fahrzeuges nicht vergessen. Der Cybertruck ist ca. 10 cm niedriger als der F-150, seine Front endet ebenfalls 15 cm (oder ein Viertel der Karosseriehöhe) näher über der Straße. Dazu kommt, dass er durch die geraden Kanten und Flächen weniger voluminös als sein klassischer Mitbewerber wirkt – im direkten Vergleich ist das Wort »zierlich« überraschenderweise das, was einem einfällt.

Unsere Gesellschaft wird voraussichtlich trotz der Warnungen von Wissenschaftlern und trotz der Appelle von jungen Menschen im »weiter so« Modus verbleiben. Die lange vorhergesagten klimatischen, geosozialen und wirtschaftlichen Katastrophen werden in der einen oder anderen Form stattfinden, entsprechende Kipppunkte sind bereits erreicht und überschritten, während wir eifrig und dickköpfig über Details einer langsamen Umstellung auf nachhaltiges Wirtschaften – oder, grundsätzlich, über die Notwenigkeit dazu – diskutieren. Trotz oder gerade wegen der möglichen Katastrophenhaftigkeit der kommenden Jahre wird der Westen so lange wie möglich weiter machen wie gewohnt. Der Klimanotstand wird ausgerufen, man gewöhnt sich daran und bleibt beim Konsum. Strukturen werden zerfallen, aber – schlecht und recht – weiter funktionieren. Die Welt des Blade Runner wird langsam zur Wirklichkeit, oder umgekehrt: Die Wirklichkeit verwandelt sich langsam in das, was in den klassischen Dystopien mit wohligem Schauer als dunkle, aber hoffentlich unwahrscheinliche Zukunft dargestellt wurde.
In diesem Zusammenhang muss über Gewalt gesprochen werden. Aber nicht über physische Gewalt, gegen die der Cybertruck mit 3 mm Edelstahl und Panzerglas gerüstet wurde. Wir sprechen über semantische Gewalt, also von Formen und Proportionen, die von jedem unweigerlich als bedrohlich und einschüchternd erlebt werden, und die das Leben auf der Straße zu einem Kampf machen. Fußgänger, Zweiradfahrer und Nutzer kleiner, ressourcenschonender Fahrzeuge werden symbolisch an den Rand gedrängt durch Autos, deren Design immer aggressiver wird. Dieses Design ist ein Erfolgsfaktor, und das bedeutet, dass die Käufer solcher Produkte bewusst oder nicht, freiwillig oder nicht, zu seiner Verbreitung und Steigerung beitragen. Zusätzlich beanspruchen unsere Autos durch Größenwachstum immer mehr Platz in einer durch Natur und historische Bausubstanz maßlich begrenzen Welt. Um es deutlich zu sagen: Das Problem liegt konkret darin, dass der Raum für alles, was nicht Auto ist, dadurch immer kleiner wird. Auch dieses Besetzen öffentlichen, also potentiell allen Menschen gehörenden Raumes, ist eine Form von Gewalt. (Anmerkung: Autos dieser Größe haben in Mitteleuropa meiner Meinung nach prinzipiell nichts verloren. Das Thema des begrenzten Raumes ist im Herkunftsland der Cybertruck nicht akut, ich bin mit dieses Unterschieds bewusst. Zur Fortsetzung des Gedankenstromes hilft es, sich klar zu machen, dass solche Fahrzeuge bei uns trotzdem verkauft und genutzt werden. Wir setzen also voraus, dass der Tesla Pick Up in der Regel ein gleich großes Fahrzeug ersetzt.)
Ist der Cybertruck im oben beschriebenen Sinne von Gewalt begleitet? Vergleicht man ihn mit den Mitbewerbern, dann ist er es erstaunlicherweise, trotz seiner brutalen Keilform, nicht. Er beansprucht nicht mehr Raum als der Marktführer, nutzt ihn aber deutlich effizienter. Er erscheint, wie schon geschrieben, im Vergleich eher zierlich, und vor allem verzichtet er vollständig auf leeres Imponierdekor, wie es sich immer heftiger in den Frontgestaltungen unserer Autos (aller Größen) findet. Er ist, wenn man so will, konzentriert zurückhaltend. Man nimmt das wahr, sobald man sich an die brutale Gesamtgestalt gewöhnt hat und man versteht dann auch zunehmend, dass diese Gestalt mindestens genau so stark funktional begründet ist wie sie eben auch semantisch wirksam ist.

An dieser Stelle fällt uns noch ein, dass diese Art der Formgebung auch als »Stealth Design« von Schiffen und Flugzeugen bekannt ist, und dort dient sie dazu, das Objekt unsichtbar zu machen, zumindest für das feindliche Radar. »Will« dieses Design etwas von mir? Drängt es mich mit Macht zu einer Reaktion? Oder »ist« es einfach? Das ist – für mich – eine noch offene Frage.
Versuchen wir einmal, uns in den Geist eines theoretischen Einzelschöpfers des Cybertruck zu versetzen. Seine Gedankengänge, die letztlich zu den Entscheidungen geführt haben, die den Cyberduck so aussehen lassen, wie er aussieht könnten wie folgt sein: 
»Die Zukunft ist unklar, aber sie ist wahrscheinlich bedrohlich. Ich will ein Werkzeug, das möglichst robust ist und mir einen gewissen Schutz bietet. Gleichzeitig will ich, mit dem Rest meiner Hoffnung, so wenig Ressourcen wie möglich in Anspruch nehmen. Ich möchte verantwortlich handeln, aber es ist mir nach vielen Enttäuschungen mittlerweile egal, was andere darüber denken. Ohnehin glaube ich nicht mehr daran, dass Einsicht und Vernunft ansteckend sind. Man hat einmal zu oft »Fuck You« zu mir und meinen Werten gesagt. Jetzt drehe ich den Spieß um: Es ist mir egal, was ihr erlebt, wenn ihr dieses Produkt seht. Wenn ihr euch bedroht fühlt – na und? Ihr selbst bedroht ja mich (und alle anderen Menschen) mit eurer Lebensweise tagtäglich. Ich habe meinen Egoismus wiedergefunden, aber er bezieht sich nur auf andere Menschen, nicht auf das Gesamtprojekt Menschheit. Wer die Anspielungen auf die dystopischen Filme und Bücher versteht, die mich geprägt haben, der versteht mich ohnehin. Ich will nur überleben, nicht dominieren. Gut möglich, dass es nicht so schlimm kommt. Dann ist das immer noch ein gutes, sinnvolles, robustes Produkt, das mir hilft, mich von dem ganzen Konsumscheiß zu emanzipieren – während es gleichzeitig Leute beeindruckt, die ich eh nicht mag.«
Vielleicht wird der Cybertruck eine stilistische Mode auslösen (nachdem die Autodesigner-Szene ihren Schock überwunden hat und aufhört, darüber zu wehklagen oder sich aufgesetzt lustig darüber zu machen). Das ist jedoch bedeutungslos. Wichtig ist, dass er allgemein für die Gestaltung von Fahrzeugen und im Besonderen für Teslas Rolle im Markt ein rigoroser, effektiver Befreiungsschlag ist. Die von Konventionen gequälte Branche müsste eigentlich aufatmen anstatt zu jammern: Man könnte jetzt plötzlich wieder alles machen – alles, was sinnvoll, geistreich, nachhaltig und zukunftsweisend ist. Leider wird das jedoch wahrscheinlich nicht geschehen.

Am Ende ist der alles entscheidende Punkt: Der Cybertruck ist keine Studie, kein Konzept. Er ist und wird ein Produkt, das erwerbbar und nutzbar ist, und das außerhalb der verschiedenen Szenen (Autodesigner, Elektrofahrer etc.) gesehen und rezipiert werden wird. Jeder wird ihn erkennen und bemerken und darüber nachdenken, warum er so ist, wie er ist. Das macht ihn, formal simpel, semantisch vielschichtig, zum wichtigsten Auto des Jahrzehnts. Und sollte sich erweisen, dass die finstersten aller Dystopien Wirklichkeit werden, dann wird er für seine Besitzer zum Überlebens-Mittel. Das letzte Auto. Danach kommt erst mal nichts mehr…