A8, 7er, S-Klasse
Eine der unser vernetztes Leben prägenden Erscheinungen ist die Tatsache, dass jeder Mensch, der über einen Computer verfügt, seine Meinung öffentlich machen kann.
Wir leben eigentlich nicht so sehr in einer Informationsgesellschaft, es ist eher eine Meinungs-Äußerungs-Gesellschaft.
Das ist gar nicht so schlecht.
Auch ich profitiere davon, indem ich z.B. in dieses Blog hineinschreibe.
So konnte man also schon wenige Tage nach der prachtvollen Präsentation des neuen Audi A8 in Miami an allen Ecken und Enden des Internet (und in der Fachpresse) Urteile über dieses neue Oberklasse-Auto lesen. Die meisten Kritiker beschränkten sich wenigstens darauf, ihre Meinung zum Aussehen des Fahrzeuges zu äußern – in Sachen Design ist ja jeder gern ein Fachmann.
Ich will mich in diesen Zeilen nicht lange damit aufhalten, dass so ein A8 nicht gleichzeitig “wie ein aufgeblasener A4”, “genau wie der alte” und “ziemlich wie ein BMW” aussehen kann. Die gründliche Divergenz dieser Aussagen zeigt schon, dass da etwas nicht stimmen kann.
(Vergleiche mit anderen Autos sind unter Fachleuten ohnehin verboten. Man stelle sich einfach mal vor, Architektur würde so beurteilt…)
Der Witz solcher Praecox-Urteile liegt nämlich vor Allem darin, dass sie auf der Basis von drei oder vier Pressefotos oder eines YouTube-Filmchen getroffen werden. Der Rest ist Vorstellung, Idee, ist halb-bewusstes Parallelen-Ziehen. Und weil man sich einfach nur vorstellen kann, was man schon gesehen hat, kommt man so schnell zu diesen “sieht aus wie…”-Sätzen. Ich habe den A8 auch noch nicht im richtigen Leben erlebt. Aber als jemand der sich professionell damit beschäftigt, wie Sachen aussehen und wirken wage ich hier die Behauptung: Ihr werdet staunen. Ich traue dem Fahrzeug eine Präsenz, Würde und Kraft zu, die sich aus den Fotos unmittelbar kaum erschließt. In Proportionen war Audi immer schon gut. Wie die optische Gewichtsverteilung dieses Riesenautos wirkt, wenn es materiell anwesend ist, das kann man erst mal nur ahnen. Mit Sicherheit trägt die fast schon dramatische Flächenbehandlung das ihre dazu bei, dass der immer noch klare Fahrzeug-Körper als ein “lebendiger” Körper wahrgenommen wird – und das unterscheidet den neuen Oberklasse-Audi positiv von seinem Vorgänger.
Dramatische Flächen und Kanten kennen wir sonst ja eher von BMW, auch wenn der alte 7er hier nicht geglänzt hat – es fehlte an Spannung und “Zug” in dem Gefüge. Der aktuelle ist hier ganz “State-of-the-Art”, und er hat noch etwas Wichtiges hinzugewonnen: Die feine Balance der Proportionen. Mit Beginn der Ära van Hooydonk hat man sich nämlich in München wieder daran erinnert, dass ein Auto keine bloße in Blech geformte Idee ist, sondern auch ein Volumen, ein Gewicht und eine Form hat, dass also das Blech eine feste und unüberwindliche Grenze zwischen einem Innen und einem Außen darstellt. Nun stimmen Spannung und Proportion, und man kann sich über den Anblick redlich freuen (mal vom Heck abgesehen, aber BMW-Hecks sind eine ganz andere, ganz eigene Geschichte).
Wir haben also zwei relativ neue deutsche Oberklasse-Autos, die von zwei verschiedenen Seiten her einem Ideal von Ausgewogenheit und Spannung einigermaßen nahe kommen (und dabei erfreulich verschieden aussehen). Und wir haben den Platzhirsch, die S-Klasse, die immer noch als Referenz gilt. Wäre sie es in Sachen Formgestaltung – die Mitbewerber lägen falsch. Denn hier ist von Verfeinerung, skulpturaler Oberflächenbehandlung oder subtiler Ausgewogenheit keine Spur. Die Form kann von jedermann sofort verstanden und vermutlich auch beschrieben werden, der sie einmal bewusst angeschaut hat. Die Radhausbacken haben etwas fast comic-haftes, die steil ansteigende gebogene Lichtkante auf den Flanken geht in dieselbe Richtung, und Details wie die in Wagenfarbe lackierten Blendchen auf den Heckleuchten (erwartungsgemäß nun weg-modellgepflegt) gehören in die beliebte Rubrik “Design für Doofe”. Das ist alles gar nicht so böse gemeint, wie es vielleicht klingt. Denn die S-Klasse hat damit einen formalen Trumpf, den keiner der beiden Mitbewerber ausspielen kann: Unmittelbare formale Verständlichkeit. Ja, die S-Klasse sieht in Wirklichkeit genau so aus wie auf den Fotos. Front, Seite, Heck – gesehen und verstanden. Attraktiv wird sie dadurch für alle die, die sich mit formalen Feinheiten, der Spannung von Lichtkanten oder der Gewichtung des Greenhouse zum Körper nicht beschäftigen wollen oder können. Solche Menschen gibt es, viele von ihnen haben Geld. Die anderen schreiben manchmal Leserbriefe über das Design von Neuerscheinungen an Auto-Bild.
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Für die derzeit erfolgreichste Luxusmarke der Welt, Louis Vuitton, arbeitet seit einigen Jahren Marc Jacobs, der Mann, der angeblich den Grunge erfunden hat.
In der Frühjahrs/Sommer-Kollektion 2010 zeigen seine Models nicht nur riesige Afroperücken und Schuhe, die mit Federbüscheln dekoriert wie Vogelfüße aussehen, sie tragen auch unendliche Variationen subtil zerstörter oder veränderter Stoffe, Schnitte mit charmanten – und handwerklich anspruchsvollen – Fehlern und immer neue, ziemlich verrückte Varianten des berühmten (durch millionenfaches Kopieren schon fast unmöglich gewordenen) Logo-Druckes. Hier kommt alles zusammen: Das spektakuläre, sich auf den ersten Blick erschließende. Das raffiniert- detaillierte. Und die Kunst der Proportion.
Mercedes, BMW und Audi, gewissermaßen.
Vielleicht wäre das ein kultureller Impuls für die Automobil-Oberklasse: Haute Couture von positiv wahnsinnigen Designern mit Hirn, Herz und Hand. Neu entdeckt werden würde auf diesem Wege bestimmt etwas, das im Augenblick im Autodesign eher kurz kommt, nämlich Witz, Charme und feiner Humor. Oder dürfen wir etwa die leicht unverschämt gezackten LED-Augen des A8 bereits in diesem Sinne verstehen?
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