Dienstag, 29. Juni 2010

SLS – über den Umgang mit Ikonen

Mercedes 300 SL, Mercedes SLS AMG



Autodesigner sprechen heute gerne von Ikonen. Sie meinen wiedererkennbare Details, Formen mit Symbolwirkung.
Im Grunde ist eine Ikone ja ein Bild, das Bewunderung oder Anbetung hervorruft oder hervorrufen soll. Man kann also ein ganzes Produkt als Ikone bezeichnen, um auszudrücken, dass es enorm hohes Ansehen genießt, und genau so hat man diesen Begriff auch viele Jahre lang genutzt.


Wenn für ein Fahrzeug die Bezeichnung "Ikone" angemessen ist, dann sicher für den Mercedes 300 SL von 1950, den berühmten "Flügeltürer". Mal ganz abgesehen von der Spitznamen gebenden Tür-Lösung: Was für ein unverschämtes, wildes und heftiges Auto ist das!

Der SL steht flach und kompakt auf dem Grund, die lange Motorhaube schiebt sich nach vorne wie eine geschmeidige Ramme, die winzige, abgerundete Kabine sitzt so weit hinten auf dem Körper, dass man das Gefühl hat, Fahrer und Beifahrer würden gerade noch irgendwie hinterher gezerrt, wenn der offensichtlich riesige Motor loslegt.

Ein sensationell rundes Heck fließt aus leicht geschwungenen Kotflügeln, lang genug, um dem Wagen auch in der Ansicht von hinten optischen Schub zu geben. Darauf liegt wie ein Juwel, von nichts in seiner Strahlkraft beeinträchtigt, ein schöner, großer Mercedes-Stern.

Ein einmaliges, unverwechselbares Detail sind die dreidimensional ausgeformten Speed-Lines, die die Kreisbögen der Radausschnitte oben überdecken, Blech gewordene Comic-Elemente, die nichts anderes tun als Geschwindigkeit zu symbolisieren.

Diese Speed-Lines, zusammen mit den für unsere Augen tief in der Karosserie liegenden, extrem plastischen Felgendeckeln und der geringen Bodenfreiheit geben dem ganzen Wagen etwas von der unverschämt selbstbewussten und gleichzeitig edlen wie schlampigen Ausstrahlung, die 40 Jahre später junge Amerikaner mit dem Baggy-Look durch herunter rutschen lassen der Hosen bis auf die Hüftknochen zu erreichen versuchten. Einfach lässig.
Keine Frage: Dieses Auto ist eine Ikone, verstehbar und wirkungsvoll über seine Entstehungszeit hinaus.


Die Neuauflage von ikonisch gewordenen Produkten hat in der Autoindustrie mittlerweile auch schon eine eigene Tradition. Mit dem New Beetle versuchte VW, nicht nur die Formensprache sondern auch die Atmosphäre des guten alten "Käfers" auf ein modernes Auto zu übertragen – wohl wissend, dass die Zielgruppe anders, und viel kleiner, sein würde als die des ursprünglichen Volkswagens. BMW hat mit dem Mini eine weitere Ikone neu auf die Straße gebracht – mit so großem Erfolg, dass der Epigone das Vorbild aus dem kollektiven Bewusstsein beinahe verdrängt hat und inzwischen wohl ein großer Prozentsatz der Mini-Käufer das Original gar nicht mehr kennt.



Und nun hat Mercedes eine neue Interpretation des alten Kult-Renners 300 SL gewagt. Der Mercedes SLS AMG hat Flügeltüren, das macht auf Anhieb klar, welches das Vorbild ist und in welche Klasse das Fahrzeug gehört. Während die unkonventionelle Lösung für die Türen beim 300 SL aus einer technischen Not geboren war – ein Gitterrohrrahmen aus dem Rennsport bildet das Grundgerüst, und da gibt es keine Möglichkeit für konventionelle Türausschnitte – haben die Flügeltüren des SLS also eher eine Marketing-Funktion. Abgesehen davon sehen wir ein Auto, das von Proportionen her und in seiner Gesamtanmutung ebenso rassig, niedrig und potent wirkt wie das 60 Jahre alte Vorbild. Und wir sehen deutlich, dass man sich bei Mercedes nicht mit einer Kopie zufrieden geben wollte, nicht einfach die Übertragung der alten Formen in moderne versucht hat, sondern dass hier der Charakter des 300 SL in einer zeitgemäßen Sprache wiedergegeben werden soll. So hat man eine insgesamt geradere, weniger schwellende Form gefunden, hat das weiche Heck gestrafft ohne den etwas verquollenen Ausdruck zu vermeiden, der beim Vorbild durch die extrem kleinen Heckleuchten entsteht und man hat den beim "Original" ziemlich grafisch in die Frontfläche gesetzten Lufteinlass dramatisch heraus modelliert. Dieses Auto zitiert nicht bloß, es erzählt eine Geschichte, die mit dem 300 Sl zwar beginnt, in der aber auch, zum Beispiel, ein Mercedes 190 oder ein McLaren Formelsportwagen vorkommt. Soweit, so gut.



Trotzdem können wir uns fragen, inwieweit der SLS AMG seinem Vorbild gerecht wird, welche Rolle er heute spielen kann. Er ist nicht mehr das Enfant Terrible aus gutem Hause, so etwas geht heute kaum mehr – und zu offensichtlich ist auch, das dieses Auto seine Existenz den Aktivitäten jüngerer Mitbewerber verdankt.
Ist er vielleicht wieder ein provozierendes Spielzeug für eine wohlhabende Minderheit? Auch das nicht, denn dazu nimmt er sich viel zu ernst. Bei allem Machismo war der alte 300 SL ja auch lieb: Die großen Rundscheinwerfer gaben ihm einen freundlichen Blick, seine Sexiness war eher pummelig als sehnig-straff und sein Interior hatte, in der Basisausstattung, etwas Picknickkörbchen-haftes, das heute ein gerührtes Lächeln hervorruft. Nichts davon im SLS: Hier sieht man einen reiferen Herrn vor sich, der etwas geschafft hat und der sich nun mit diesem Auto zu belohnen versucht, ohne dass er die Lockerheit und den Humor aufbringt, sein Leistungsdenken hinter sich zu lassen. Eine gewisse Verkrampftheit liegt da in der Luft, eher ein "müssen" als ein "dürfen". In diesem Lichte sollte der SLS eigentlich eine Verfeinerung, eine Perfektion mitbringen, die dem – durch den Gesamtauftritt des Wagens deutlich gesetzten – hohen Anspruch gerecht wird. Doch im Detail löst er (wir sprechen hier ausschließlich von Design, nicht von Technik) dieses Versprechen nicht ein.
Die, grafisch interessant und intelligent aus dem Körper geschnittenen, Scheinwerfer haben überraschenderweise im Detail etwas Halbzeughaftes, Studien in den 90er Jahren hatten solche Lampen. Die Außenspiegel mit dem Gehäuse aus Kohlefaserverbund wirken merkwürdig fremd auf dem Wagen – ohne sich von der Gesamtform so weit zu entfernen, dass man sie übersehen könnte. Auch über die Bügelfalte am Heck ließe sich diskutieren.
Ernsthafte Fragen löst ein Blick ins Interieur aus: Wurde hier, unter dem Vorwand des Rückbezuges auf ein historisches Original, am Ende schlicht und einfach gespart? Leder, CFK, poliertes Metall – das edle Material wird ohne große Idee oder sichtbares Konzept in eine Form gebracht, die für diese Klasse ein wenig dürftig wirkt. Man kann hier einen Willen zur Einfachheit vermuten, der sich nicht ganz durchsetzt, oder einen Mangel an Ideen und Zeit, oder vielleicht eine gewisse Arroganz, weil man sich so sicher ist, mit dem Exterior einen Volltreffer gelandet zu haben.

Diese etwas unfertig wirkenden Details stellen, je intensiver man sich mit dem Auto beschäftigt desto mehr, die ganze Idee des Redesign eines Klassikers in Frage. Es gibt Supercars mit atemberaubenden Interieurs und mit Karosserien, die für Science-Fiction Filme taugen. Sie beziehen sich auf nichts als auf die Möglichkeiten und Wünsche von heute. Genau so ein Auto war der 300 SL in seiner Zeit...
Und wenn wir uns schon vor Vergangenem verneigen: Warum werden die wirklich witzigen Details nicht zitiert? Speedlines über den Radausschnitten – das wäre doch mal wieder was.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen